| ||||||||||||
Um den grossen Berg | Illustrationen | |||||||||||
Eine kurze Einleitung zum langen Schluss Henryk Waniek | ||||||||||||
Ihre Wanderung zur Unendlichkeit begann sie eben in der Umgegend des Großen Berges. An den kleinen Felsen in den Falkenbergen hatte sie es entdeckt, dass eine Richtung ihrer Natur eigen ist: Hinauf. Diese Entdeckung war gleichsam zufällig; bei einem Sonntagsausflug aus Breslau hatte sie gesehen, wie ihre Bekannten klettern können, und sie versuchte es selbst. Der Forstberg ist nicht ganz 623 m hoch, der Kreutzberg nicht viel höher. Mißt man sie also mit dem prosaischen Metermaß, dann sind es keine Großen Berge. Eher Zwerge. Ganz winzige Zwerge im Vergleich mit diesen, von denen sie bald angezogen wurde. Natürlich kannte ich diese kleinen Felsen, vorzüglich geeignet als Übungsfeld für angehende Bergsteiger, wenn mir auch nie durch den Kopf gefahren war, sie für Leistungssport zu gebrauchen. Mir reichte der Pfad, der Jahrhunderte lang durch unzählige Füße festgetreten wurde, von Menschen, die hinaufgingen, um von oben auf die heimische Landschaft hinunterzublicken. Immer wenn ich dort war, benutzte ich gerne dieses kollektive Mühsal vieler Beine, das sich in einen Pfad umwandelte. Ich hatte aber das Gefühl, dass ich, der sich diesem Wanderweg hingibt, es auch für diejenigen tue, die einmal denselben Weg gehen werden, mit dem gleichen Vorhaben, das ich damals hatte; und vor mir waren doch andere gegangen. Dieses hartnäckige Erstürmen von Wegen, die niemand mehr betreten wird außer denen, die sie für sich, nur für sich gebahnt haben, die das Unmögliche genießen wollen - das konnte ich nie begreifen, und ich verstehe es nach wie vor nicht. Ich wäre nicht geneigt, den Forstberg gegen die Alpen, die Anden oder die Himalaya zu tauschen. Höchstens gegen den Großen Berg, den meines Wissens kein Bergsteiger mit professioneller Ausrüstung zu besteigen versuchte. Als ich sie fragte: "Warum?", da hatte sie etwas geantwortet. Nichts aber, was in meiner Erinnerung haften bliebe. Wanda Rutkiewicz vermochte es, mit Blick, mit Lächeln zu sprechen. Als würde sie sich selbst wundern, als wäre sie sich selbst ein Geheimnis. Sie antwortete eigentlich nicht mit Worten, sondern mit der Intonation. Worte waren irgendwo auf der Strecke hängen geblieben, etwas verschleiert und unvollendet. Nicht nachvollziehbar. Daraus, was sie gesagt hat, habe ich soviel verstanden, dass sie nach einem Berg sucht, vielleicht aber nur danach, die Grenzen des Möglichen zu sprengen. Das sei ihr Traum, und das sei auch der Antrieb für ihr Handeln. Wie gesagt: Ich kann das nicht verstehen. Mich beeindruckte jedoch, wie systematisch sie diesen Wegen den Rücken zeigte, die von allen begangen werden. Auch von solchen wie ich. Den Wegen auf den Freieberg, auf den Silberstein, auf die Schneekoppe oder auf den Hochstein. In meiner Empfindung hat sie jedoch, obwohl ich es damals nicht laut gesagt habe, diese ersten Felsen in ihrem Leben verraten. Ich behaupte es nicht, dass sie sie nicht in ihr Herz schloss. Aber sie hat dieser Gegend nicht einmal einen warmen Blick geschenkt. Vom Isergebirge hat sie jedenfalls zum ersten, und vielleicht auch zum letzten Mal in ihrem Leben von mir gehört. Geht es also um die Falkenberge, so hat sie diese weit hinter sich zurückgelassen. Sie ist anderen Bergen nachgerannt. Sie hat andere erklettert. "Ich würde Sie gerne zu einer kurzen Pilgerwanderung mitnehmen. Für einen, höchstens für zwei Tage. Irgendwo ins Riesengebirge oder eben - vielleicht noch viel lieber - ins Isergebirge. Ein solches, in dem es an Sinn und Gelegenheit fehlt, es zu besteigen. Wo man langgeht, um sich zu unterhalten: mit den Bäumen, mit dem Himmel, mit dem Felsen, mit der ganzen Welt, wenn nicht mit denen, die mit uns zusammengehen." Sie konnte mir keine rhetorische Gegenleistung anbieten, mich auf den K2 oder auf den Kangchendzönga einzuladen, wo man übrigens immer ein ungeladener Gast ist. Da der letztere für einen Berg gehalten wird, wo sämtliche Gottheiten des Lamaismus zu Hause sind, wagen es selbst nicht die Himalaisten, seine Spitze zu betreten, in Furcht vor unvermeidlicher Strafe. Der Berg ist von Aberglauben umhüllt, die Schrecken einjagen. So muß man eher alleine in die Himalaya eindringen: über die Leichen und um jeden Preis. Auch wenn es dem nicht so wäre, hätte ich doch die Einladung nicht annehmen können. Ich hätte es nicht gewollt. Mir fehlt der Sinn fürs Klettern am Seil, von einem Haken zum anderen, von einem Erfolg zu dem nächsten. Was war also meine Begegnung mit Wanda Rutkiewicz? Welchen Sinn hatte sie und welche Bedeutung? Ganz ohne Pathos ausgedrückt, war es ein gemeinsames Interesse. Kein Geldgeschäft, Gott bewahre. Vielmehr ein symbolisches, möglicherweise ein philosophisches, mit Sicherheit ein gefühlsmäßiges, und ebenfalls ein mental-emotionales, in gewissem Sinne auch ein ästhetisches. Wir begegneten uns um den Großen Berg, vielmehr aber angesichts des Großen Berges. Nicht eines konkreten und benennbaren. Es handelt sich um einen Großen Berg, den man in sich trägt wie das eigene Schicksal. Manchmal auch vor oder unter sich. Denn obwohl der Berg groß ist, hängen doch seine Ausmaße von unserer Vorstellungskraft, von der Größe des persönlichen Traumes, von der Wucht ab, mit der wir ihn zu erobern trachten. So war also mein Berg kleiner, um vieles kleiner als ihr Großer Berg. Der meine war vereinzelt, der von ihr - vervielfacht. Sie wollte sie alle durchlaufen, gleichsam mit einem Marschtritt. Sie selbst nannte ihre seltsame Liebe eine "Karawane der Träume", eigentlich gar eine "Karawane zu den Träumen". Sie hatte sich ein präzises Kalendarium ihrer geplanten Erfolge angefertigt. Der erste Berg, Cho-oyu in Tibet, sollte am 1.9.1991, der letzte, eben der Kangchendzönga in Nepal, am 15.08.1992 erobert werden. Lauter Achttausender. Ich war gerührt von dieser präzisen Terminplanung. Ich konnte nie mit Terminkalender in der Hand träumen, noch die Träume in Geldbeträge umsetzen, die dahinter stehen. Plötzlich stieß ich auf eine Amerikanisierung der Träume. Zu meinem Großen Berg trieb micht nicht ein Traum, sondern eine Art "ungewisse Gewissheit", dass ich einen Schatz darin finde, oder dass ich zumindest mit Fuß, Hand oder Blick die Stelle berühre, wo sich dieser Schatz bestimmt befindet. Doch über Schätze haben wir nicht gesprochen. Sie hat irgendwie gewußt, daß auch ich meinen Großen Berg habe. Seine missratenen Fragmente hatte sie zufällig irgendwo gesehen. Übrigens: nicht ganz zufällig. Es gibt keinen Zufall in dem, was ich erzähle (und in nichts anderem). Während einer Begegnung mit dem Nestor der polnischen Bergwanderer, Prof. Andrzej Wilczkowski aus Lodz, hatte sie einfach ein Zeichen auf dem Schutzumschlag seines Buchs wahrgenommen. Sie war dieser Spur nachgegegangen (der Professor gab ihr zuvor einige Hinweise) und so stieß sie auf mich. Jemand - wohl war es Frau Ewa Matuszewska - hatte unser Treffen eingefädelt. Mir wurde früher gesagt, worum es sich handelt, Tag und Uhrzeit wurden festgelegt. Wir waren uns begegnet. Soeben kam die Initiative der Karawane zu den Träumen in Schwung, und Wanda Rutkiewicz trat die organisatorischen Tätigkeiten an. Denn ihre Liebe war kostspielig. Sie benötigte großer Geldmittel, um die sie sich sorgfältig und eifrig bewarb. Zunächst hatte sie aber keinen roten Heller. Eine Reproduktion meines Gemäldes sollte auf der Promotionsbroschüre stehen, die die geplante Karawane öffentlich machte und Sponsoren zu gewinnen suchte. Mir scheint, ich hatte irgendwelche Bedenken. Ich hatte keine innere Begründung in mir gefunden, mich solch einer tollkühnen und himmelhohen Aktion anzuschließen. Offen gesagt, hatten meine Berge - so die größeren wie auch die kleinen - mit den Himalayagipfeln nichts gemeinsames gehabt. Sie waren eher geträumt als real, und ihre Besteigung kam überhaupt nicht in Frage. Sie schwebten am Himmel wie Wolken, wie Steine, die leichter waren als die Luft. Es stellte sich aber heraus: Was ich ihnen als Schwäche vorhalte, war in ihrem Verständnis eine Tugend. Ich war bemüht, diesen fremden Gesichtspunkt anzunehmen. Wollte mich aber vor allen Dingen selbst davor schützen, an der Besteigung des Berges, sei es nur per procura, teilzunehmen. Was sie tat, war, das Leben aufs Spiel zu setzen. Es handelte sich nicht um Picknicks der Träumer an den sudetischen Hügeln, um peripatetische Gratwanderung im Isergebirge, nicht einmal um einen atemberaubenden schnellen Spaziergang vom Schweizerhaus zum Gipfel des Forstberges, den ich auch selbst gern machte. Doch eine Absage kam nicht in Frage. Ich hätte es nicht verkraftet. Gewissermassen war ich dadurch geschützt, dass ich dieses Bild nicht mehr hatte. Schon lange her ist es in die Welt gegangen, und ich habe nicht einmal gewußt, in wessen Händen es nun ist. Ich habe allein über eine Reproduktion verfügt, und dies war alles, was ich ihr geben konnte. Darüber hinaus freilich noch diese einigen Gespräche über die Berge, aus denen allein und hartnäckig der grundsätzliche Unterschied zwischen ihrer und meiner Auffassung des Großen Berges hervorfloss. Ich will diese Gespräche nicht zusammenfassen. Ich kann nur sagen, dass in ihnen vielmehr vom Geist als von Bergsteigertechniken oder von der Dekompression die Rede war. Kein einziges Wort über die Euphorie, zwischen Höhe und Abgrund zu balancieren. Kein Wort über den Heroisums, die Belastbarkeitsgrenzen zu überschreiten, keins auch über die Ausrüstung, über die Organisierung der Kollektive. Wir sprachen über den geistigen Hunger der Höhe und von einer Welt, die - von oben gesehen - ganz anders wird als diese, die vom Bürgersteig her gesehen werden kann. Das wunderte mich sehr. Sie war doch in jeder Hinsicht ein rationaler Mensch: Ingenieur, Elektroniker, organisiert bis über die Ohren, bewandert in prosaischem Rechnen und in Kalkulation. Und hier auf einmal: Geister, das Geistige, Aberglaube, Transzendenz. Einmal zeigte ich ihr einen abgebröckelten Granitstein, den ich als Talisman von einem Abenteuer im Gebirge behalten habe. Das Abenteuer war nicht gefährlich, wenn auch eigenartig dramatisch. Ich muss es ansehen als eine Begegnung mit dem bedrohlichen Element, mit einem strengen Geist, mit dem nicht zu scherzen ist. Der kleine Stein lag auf dem Tisch. Sie nahm ihn nicht einmal in die Hand. Sie berührte ihn nur mit ihren Fingern und sagte lächelnd, dass sie dies eben suche. Habe ich sie gut verstanden? Es war lediglich ein Bruchstück eines Sudetensteines. Kein Tschomolungma. Kein Mont Blanc. Diese einigen Begegnungen - es waren insgesamt nicht viele, vier, möglicherweise fünf - hatten sich aufeinandergeschichtet. Sollte ich sie irgendwie verallgemeinern, so müßte ich sagen, daß dabei nicht sie, sondern vielmehr ich prosaisch war. Ich war viel stärker vom Berg gefesselt als sie von den Bergen. Ich war bei weitem eingeschränkter als sie, die größer sein wollte als Der Berg. So wurde letztlich das Bild gedruckt. Dann tauchte es noch auf einigen Postkarten auf, die sie aus verschiedenen Orten der Welt schrieb. Es entflog in die Bereiche eines Geschäfts, das sich allmählich und langsam als Karawane zu den Träumen entwickelte. Wohl zu langsam, denn die Expedition wurde unerwarteterweise abgesagt. Ich hatte aufgeatmet und fragte Wanda Rutkiewicz in einem Telefongespräch, ob sie sich noch an meine Einladung ins Riesengebirge erinnere. Heute bereue ich es, denn es konnte hämisch ausfallen: die Sudeten gegen die Himalaya. Ja, sie konnte sich erinnern.. Doch, wenn ich mich noch gut daran erinnere, hatte sie sich mit Vorbereitungen auf ein Autorallye herausgeredet. Mit einem Wort, mein Bild schien ihr kein Glück gebracht zu haben. Es durchkreuzte ihre Pläne. Sie protestierte heftig dagegen, die Sache so zu sehen. Das stimme nicht. Sie sei nicht abergläubisch, so hat sie es gesagt, und habe es vor, es weiter zu verwenden. Mehr noch: Sie schlug vor, ich sollte ein anderes, ähnliches Bild für sie malen, wenn ich das erstere nicht wiederholen will oder kann. Das habe ich ihr schnell versprochen, ohne mich in Details zu vertiefen, doch in voller Verantwortung. Dann gab es lange kein Lebenszeichen von ihr. Inzwischen, eigentlich so gut wie gleich nach diesem unseren Gespräch, begann ich daran zu denken, mein Versprechen einzulösen. Aus irgendeiner Quelle - war es Presse, Rundfunk oder Fernsehen - erfuhr ich, die Expedition sei nicht abgesagt, sondern um ein Jahr verschoben worden. Ich bekam eine Karte oder einen Brief vom Ausland, wo Wanda Rutkiewicz Schritt für Schritt auf ihre Expedition hin arbeitete. Ich habe es mir vorgemalt, wie sich die Achttausender bereits in Erwartung ihrer anstellen. In diesen unseren Gesprächen war noch etwas, was ich in ihr und wohl auch sie in mir verstand. Der Große Berg ist die Große Einsamkeit. Eine verdiente Erholung von der menschlichen Herde, in der wir nur eines der Tiere sind, die in Heideggers Auslegung auf den Tod hin leben. Im Tiefland sind wir Menschheit, auf dem Berg dagegen sind wir Menschen. Nirgendwo sind wir so sehr Person, also ein eigenständiges Wesen, ein unvergleichliches Einzelwesen, wie im Gebirge. Diesem Gedanken folgend kann man sagen, dass wir im Tiefland Heideggers Schafe sind, während Nietsche uns in die Höhe führt. So ließe sich das vereinfacht in die Philosophie umsetzen, die wir übrigens in unseren damaligen Gesprächen gar nicht berührt haben. Es fiel mir auf, dass sie sich mit diesem Hunger der Einsamkeit und gelegentlich auch mit der Distanz zur Herde verraten hatte. Sie hatte, glaube ich, große Erfahrung im Zusammenleben im Kollektiv. In verschiedenen Kollektiven. Sehr verschiedenen. Und sie hatte den Kodex, der schon aus fünf, sechs Personen eine komplizierte Hierarchie schafft - eine Herde, geleitet vom Huf ihres Anführers, meines Erachtens nicht gut ertragen können. Denn sie verurteilt einen auch zu einer Kette von Anweisungen, die blindlings befolgt werden müssen. Es wird zumindest so behauptet, sie sei kein leichter Partner in den Bergen gewesen. Nichtsdestoweniger waren wir uns einig, dass man gerade im Gebirge eine gute Mannschaft um sich haben muss. Die möglichst beste. Eine vorzügliche. Umso mehr an Abgründen, die ihre Berge waren. Wir wussten, dass die Berge verschiedene Eigenschaften aus dem Menschen hervorholen können. Nicht unbedingt die besten. Manchmal gar umgekehrt. Die Berge sind der beste Prüfstein für die Wahrheit über einen Menschen. Doch all dies ist lediglich nur eine Einführung in das eigentliche Thema, das ich nur grob umrissen habe und nicht auszuschöpfen vermag. Wanda Rutkiewicz hatte letzten Endes ihre Karawane zu den Träumen für die nächste Saison vorbereitet. Vor ihrer Abreise fand ein Abschiedstreffen mit nur wenigen Personen im Fernsehstudio statt. Sie selbst war Gastgeberin und lud Wlodzimierz Zawadzki, den Physikprofessor und Dichter, Krzysztof Lang, den Regisseur und ihren Meister im Bereich des Bergsteigerfilms, und den Unterzeichneten ein. Möglicherweise sollten noch andere Personen mit dabei sein. Ich weiß aber nichts davon. Dagegen dieser kleine Kreis, der sich eines Nachmittags etwa eine oder zwei Wochen vor Beginn ihrer Expedition vor den Fernsehkameras versammelte, macht für mich bis heute kein leichtes Rätsel aus. Warum gerade diese drei Personen? Keine Ahnung. Ich nahm damals mit mir einen alten Spazierstock, der seinerzeit, vor etwa 60-70 Jahren, einem deutschen Bergwanderer gehörte und mit damaligen Andenken aus meinen heute beliebten Orten im Riesen- und Isergebirge dicht beschlagen war. Der Spazierstock sollte für eine Suche nach dem Großen Berg gerade dort sprechen, wo eben ihr Abenteuer mit den Bergen begann. Also im nächstliegenden geographischen Bereich. In diesem doch recht kleinen Gebirge, das jemand mit dem Namen des Riesengebirges versah. Er solte ein Argument werden gegen die Suche nach dem Großen Berg irgendwo auf der anderen Globushälfte. Das Gespräch wurde aber zu anderen Themen hinübergeleitet. Und es entwickelte sich wohl nicht so, wie es zu verlaufen hätte: zu dem Geist der Berge hin, der immer und überall bereit ist, dem Menschen eine Wahrheit zu zeigen, die nirgendwo sonst anzutreffen ist. Wanda Rutkiewicz war dabei nicht natürlich, ähnlich wie ihre Gesprächspartner. Beschämt muss ich gestehen, dass ich mich nicht einmal daran erinnern kann, worüber wir sprachen. Ich habe mir dieses Programm gar nicht mehr angesehen. Jemand, dem ich einmal in Kattowitz begegnet bin, hat gesagt, es sei sehr interessant gewesen und er habe es auf seinem Videorecorder aufgenommen. Aber auch diese Gelegenheit habe ich nicht wahrgenommen. So erinnere ich mich von alledem nur daran, dass wir dort wohl das Wichtigste nicht gesagt haben. Ein Fernsehstudio bietet kaum Chancen für Höhenflüge, keine Möglichkeiten, hochzuklettern, weder physisch noch mental. Kurz darauf reiste sie ab. Das Gemälde war indes entstanden und wartete, irgendwo in die Ecke des Ateliers abgestellt, auf ihre Rückkehr. Die Zeit verging. Wurde lang. Immer mehr Zeit war vergangen. Bis Meldungen von einem Unfall auftauchten. Doppeldeutig genug, dass man sie beliebig verstehen konnte. Die Zeit lief unentwegt weiter. Später, als es immer sicherer schien, dass sie eine andere Richtung eingeschlagen hatte, dass sie eher nicht zurückkommt, versah ich das Gemälde mit dem Titel "Wiegenlied für Wanda Rutkiewicz". Und dies wäre nun die ganze Einleitung zu dem kurzen Schluß, den ich von Anfang an schreibe. Die englische Sprache macht keinen Unterschied zwischen dem Tages- und dem Schlaftraum. Die Karawane zu den Träumen klingt aber im Polnischen derart eindeutig, dass ein Lächeln kaum unterdrückt werden kann. Man kann es sich leicht vorstellen: Diese Abhänge (sie sehen auch am Tage nächtlich aus), zunächst nur steinig und felsig, doch etwas höher schon mit Eis und Schnee bedeckt, vor dem Hintergrund eines dunklen Himmels. Dieser Reigen von Menschen, wie eine Karawane der Lasttiere, der an den Rand der Geduld vor sich hintapft und der Großen Absurdität immer näher kommt. Immer näher dem Tod, der die Enden aller Seile in seinen Händen hält. Nolens volens fühlte ich mich in diese Angelegenheit verwickelt. Ich hielt ihr die Daumen, als sie schon die Unwege der Himalaya betrat. Um diesen Zeitpunkt herum ging ich mit einigen Personen auf den Hochstein; an einem kleinen Lagerfeuer gedachte ich der Wanda Rutkiewicz. Die Schneefelder tauten allmählich an den Abhängen des Isergebirges auf, allein die Schneekoppe und der Reifträger beharrten auf ihre weiße Farbe. Über unseren Köpfen flogen drei Raben in Richtung Westen. Ein gutes Zeichen. Man weiß nicht, wie es dort weiterging, obwohl viel darüber gesprochen, geschrieben, gedruckt wurde. Was war wirklich geschehen? Wem soll man glauben? War sie angekommen? War sie zu ihren Träumen gelangt? Ohne Zweifel hatte sie erreicht, was sie erreichen wollte, sei es auch unbewusst. Im besten Stil, denn da war sie eine Meisterin wie kaum ein anderer Mensch. Ebenfalls im besten Stil überschritt sie jene hauchdünne Grenze zwischen den wirklichen und den geträumten Bergen. Am Ende muß sich jeder von uns, ob er sie kannte oder auch nicht, den Kopf zerbrechen, um eine befriedigende Antwort zu finden. So kann und darf ich nur so viel über die Angelegenheit schreiben, an der ich noch weniger als symbolisch beteiligt war. Das Symbol - sýmbolon - ein altes griechisches Wort, das eine Hälfte eines Obolus bedeutete. Möglicherweise dieses eben Obolus, den Charon im entsprechenden Augenblick bekommt. Die Legende besagt es, dass die Münze zum Abschied entzwei gebrochen wurde und jeder seinen Teil behielt. Nach Jahren werden sie wieder zu einer Einheit zusammengeschlossen. Passen sie ideal zueinander, dann erkennen sich die Besitzer der beiden Hälften, wenn auch alles anders sein sollte: ihr Alter, ihre Körper, die Umstände und das Gedächtnis. Alles wird anders sein, und nur in den zwei Teilen des einmal entzwei gebrochenen Obolus bleibt die Wahrheit über Abschied und Trennung von damals erhalten. An das andere Ufer der Styx übergesetzt, passen sie wieder bestens zusammen. Und das wäre alles. Schluß. Doch es gibt noch etwas, was ich im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit hier sagen muß. Es geht um den Großen Berg, der zweifelsohne exisitiert, wenn auch - wie ich es schrieb - die geographischen Karten nicht unbedingt von ihm Bescheid geben müssen. Um den Großen Berg, der immer am Horizont da ist, niemals aber unter den Füßen oder auch Knien. Wer weiß, ob es nicht eine gleich große Leistung war, vor 100 oder 200 Jahren einen Gipfel des Riesengebirges zu besteigen wie heute den Mont Blanc zu erklettern. Indes wuchs die Entfernung an zwischen dem Ort, in dem wir leben, und dem Berg, zu dem wir hingehen, um zu träumen. Die Träume unserer Zeit überlagerten sich in die Umgegend des Tibet; sie entfernten sich im Raum. So benötigt man wahrlich eine Karawane, um sich ihnen, den Träumen, ein bisschen zu nähern. Nur die kühnsten Menschen unternehmen Expeditionen zu ihnen, um meist nicht zurückzukehren und uns das ganze Leben lang in Unsicherheit zu lassen. Gibt es sie oder gibt es sie nicht? Warten sie auf uns, oder wir auf sie? Etwas ist passiert mit unseren Träumen. So denke ich mir, wenn ich am Fuße oder angesichts meines kleinen Großen Berges sitze, der mich von allein mit Träumen verschüttet und verwöhnt. |
||||||||||||
Die Seite wird von der Europäischen Union in Rahmen des PHARE-Programms finanziert. | ||||||||||||
Geschichte Verlage Künstler Ausstellungen Erziehung Information | ||||||||||||